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Beitrag vom 16.06.2005
kiss and run
Tatjana Zilg
Die 24jährige Emma flüchtet sich aus der Realität, mit der sie alltäglich in einer tristen grauen Frankfurter Hochhaussiedlung konfrontiert wird, in den Traum vom Schauspielengagement ihres Lebens
"Wer nie das Meer gesehen hat, hält eine Pfütze für den Ozean."
"Der Himmel kann sich auch in einer Pfütze spiegeln."
"Nur ist er da grau, nicht blau."
Max (Ken Duken) versucht mit seiner rauen Art die langjährige beste Freundin aus der Illusionswelt zu holen, in die sie seiner Meinung nach ständig entflieht. Doch Emma (Maggie Peren) sieht das eigentlich genau andersrum: Sie rennt von einem Casting zum nächsten, um ihren Zielen ein Stück näher zu kommen. Max dagegen hat keine und verbringt den Tag mit Analysieren von angeblichen Phallussymbolen wie dem Eiffelturm.
Das Leben in der Hochhaussiedlung ist tatsächlich alles andere als im Hollywood-Film. Die Videothek, in der Emma jobbt, steht kurz vor der Schließung. Der Vater von Max ist nicht sein leiblicher. Jetzt liegt er mit Krebs im Endstadium im Sterben und der, sich nach außen stets so abgebrüht zeigende Wortkünstler, ist in seinen widersprüchlichen Gefühlen verfangen. Kein einziges Mal besuchte er ihn bisher im Krankenhaus.
Das Pärchen Christo (Hinnerk Schönemann) und Malia (Anja Herden) gerät in Zweifel über ihre Beziehung, obwohl sie in zwei Wochen heiraten wollen. Die dunkelhäutige, sehr attraktive Frau vertraut Emma an, dass der Gedanke, beim Sex Kinder zu zeugen, starken Widerwillen in ihr auslöst, zudem Christo dies eher anzuspornen scheint. Der eher wortkarge junge Mann sucht hingegen Rat bei Max, der jedoch wenig Verständnis dafür hat und einen Traum von einer kopflosen Frau erzählt. Max ist verwirrt von dem Traum, aber der Überzeugung, dass er keine feste Beziehung möchte.
Die beiden Jugendlichen Banu (Michael Munteanu) und Leo (Martin Kiefer) sind noch ganz am Anfang ihrer Wünsche gegenüber dem anderen Geschlecht. Von Weitem himmeln sie Jeanette (Karoline Schuch) und Nicole (Tamara Samonte) an, die ihnen meist die kalte Schulter zeigen. Ehrfürchtig beobachten sie die junge Asiatin beim anmutigen Üben ihrer Kampfkünste vor der Kulisse der eintönigen Hochhäuser.
Am 25. Geburtstag von Emma organisieren die FreundInnen für sie eine Überraschungsparty, bei der ein spitzbübischer Nachbarsjunge für ein kleines Wunder gesorgt hat: Von den Balkonen der Hochhäuser leuchten lauter Glühbirnen, die zusammen einen außergewöhnlichen Glückwunsch ergeben. Von den letzten Castings ausgebrannt erkennt Emma plötzlich, dass sie mit Max mehr verbindet als nur Freundschaft.
Sehr positiv fällt die Tendenz zum Episodenfilm auf, durch die sich viele kleine Geschichten und Schicksale parallel zum Hauptstrang entwickeln. All diese Puzzleteile ergeben eine gelungene Momentaufnahme des schwierigen Alltags in der Enge und Perspektivlosigkeit eines sozial schwachen Großstadtbezirkes. Jeder der ProtagonistInnen gelingt es am Schluss, dem Leben ein Stück Glück abzutrotzen. Die frechen, humorvollen und spitzfindigen Dialoge geben den Film einen besonderen Reiz. So verwundert es nicht, dass das Drehbuch auf der Berlinale 2000 als "Bestes unverfilmtes Drehbuch" ausgezeichnet wurde. "Es ist vital, komplex, so rotzig wie zart." (Begründung der Jury). 2005 erhielt der Film außerdem den Grimme-Preis für Regie, Drehbuch und HauptdarstellerInnen.
AVIVA-Tipp: Die Geschichte über Zukunftsängste und Glück, Freundschaft und Sex, Rollenspiele und Masken-Fallenlassen wirkt sehr authentisch und realitätsnah. Die sorgfältig ausgearbeiteten Charaktere laden ein zur Identifizierung. Auch der Humor kommt nicht zu kurz durch raffinierte Querbezüge und satirische Elemente.
Kiss and Run
88 Min, Deutschland 2002
DarstellerInnen: Maggie Peren, Ken Duken, Anja Herden, Hinnerk Schönemann, Martin Kiefer, Michael Munteanu, Karoline Schuch, Tamara Samonte
Regie: Annette Ernst
Drehbuch: Maggie Peren
Verleih: ZuG Filmverleih
Kinostart: 23.06.2005
www.kiss-and-run.de